Anmerkungen für die (Hobby-)Philosophenrunde Melle im September 2020

 

Seth: „Du schaffst deine eigene Realität“

Versuch einer Kritik

 

Diejenigen, die von der Website der Meller Philosophenrunde hier gelandet sind und die Einleitung dort bereits gelesen haben, blättern bitte vor zur nächsten Seite mit dem Punkt 0.1 Meine Zitierweise.

 

Wer zunächst den Einführungstext der Meller Philosophenrunde lesen möchte, kann dies hier tun:

Vorschau- und Nachschau-Text "Das Seth-Material".

 

Der Beginn des Textes:

 

Die beste allgemeine Definition des äußerst komplexen SETH-MATERIALS findet man bei Jane Roberts, nämlich in ihrem Buch "Der Weg zu Seth":

     "Unabhängig davon, was Seth nun ist oder nicht ist, fasziniert uns das Seth-Material ständig durch sein hohes intellektuelles Niveau, seine logischen und psychologischen Einsichten, seine psychologischen und wissenschaftlichen Theorien.

 

 

0. Einleitung

 

»Die Philosophie, die Seth in seinen Büchern beschreibt, kann man mit dem folgenden Satz zusammenfassen:

"Du erschaffst deine eigene Realität.1

 

In dem Buch Die Natur Der Persönlichen Realität von Jane Roberts verwendet Seth diese Formulierung in leicht abgewandelter Form noch mehrere Male. Und er betont:

 

Es gibt keine andere Regel.(S. 8)

 

Ich möchte in diesem Kommentar Seths Behauptung kritisch prüfen. Im ersten Teil geht es um die Frage, ob sie ihrem Anspruch gerecht werden kann:

 

Zum Einstieg führt Seth zunächst Beispiele für Bereiche an, auf die sich seine Formel anwenden lässt. Auf dieser Grundlage schlage ich eine Realismusdefinition vor und versuche sodann, mit Seths Hilfe in sehr allgemeiner Form zu erläutern, wie bewusste und unbewusste geistige Potenzen materie- und realitätsschaffende Prozesse vollziehen. Meine Realismusdefinition ist Maßstab für eine anschließende Überprüfung der Gültigkeit von Seths Regel mit dem Ergebnis: Diese trifft nur auf sehr wenige Fälle zu.

 

Ein zweiter Teil befasst sich mit einer politischen Einschätzung. Mein Resultat dort: Seths Wahlspruch kommt der Hauptlosung des Neoliberalismus „Jeder ist seines Glückes Schmied“ sehr nahe, wodurch er sich zu seinem selbstgestellten Ziel in Widerspruch setzt: den Menschen bei der Lösung ihrer persönlichen Probleme zu helfen. (Realität, S. 2)

 

Folgende Punkte werde ich behandeln:

 

0. Einleitung (s.o.)

0.1 Meine Zitierweise

1. „Systemimmanente" Kritik

1.1. Seth spricht

1.2 Probleme der Seth-Rezeption

1.2.1 Wer ist Seth?

1.2.2 Seths Wissensvorsprung

1.2.3 Diverse Realitäten

1.3 Ist Seths knackiger Slogan irreführend?

1.3.1 Ihr schafft eure eigene Realität - wie geht das?

1.3.2 Ein Tisch macht keine Wirklichkeit

1.3.3 Fazit

2. Seth als Sympathisant des Neoliberalismus?

2.0 Einleitung

2.1 Die Weisheit des Marktes

2.2 Neoliberale Politik

2.3 Menschen leiden

2.4 Agenda 2010 und die Eigenverantwortung

2.4.1 Schröder, Clemens, Seth - im Einklang?

2.5 Im Reparaturbetrieb des Kapitals

2.6 Meller Philosophen verändern die Welt![?]

2.7 Seth - ein Sympathisant des Neoliberalismus?

 

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1 https://bewusstsein-und-realitaet.de/seth/Seth-Ste.htm

 

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0.1 Meine Zitierweise:

 

Ich zitiere (bis auf wenige Ausnahmen) aus folgenden Büchern von Jane Roberts:

 

 

 1. „Systemimmanente“ Kritik

 

Ich werde im Folgenden Seths System - die Gesamtheit seiner Theorien, Thesen, Erklärungen, Erfahrungsberichte, ... - als gegeben hinnehmen, ohne das Gesamtsystem oder einzelne seiner Bestandteile zu hinterfragen und will versuchen, meine Kritik an Seths Botschaft

 

Ihr schafft eure eigene Realität

 

auf dieser Grundlage zu entwickeln.

 

Dass sein Spruch nicht davon handelt, sich eine beliebige Wirklichkeit, z.B. eine Welt ohne Naturgesetze zu erschaffen, macht Seth eindeutig klar:

 

Solange ihr einen Körper habt, müßt ihr euch physischen Gesetzen und Voraussetzungen beugen.“ (Realität, 8)

 

Worum es ihm geht, wird Seth uns gleich erklären. Lassen wir ihn zunächst selbst zu Wort kommen.

 

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 1.1. Seth spricht

 

Ihr macht eure eigene Realität.1 (Realität, 8)

 

Manche Gefühle und Gedanken werden in Strukturen übersetzt, die ihr als Gegenstände bezeichnet ...“ (Realität, S. 6)

 

Eure gesamte Umwelt ist die Materialisation eurer Überzeugungen.(Realität, 14)

 

Ich sage nur, dass ihr die physische Welt erschafft, wie ihr sie kennt.“ (Weg, 162)

 

Durch solche Wechselwirkungen werden dann Stürme verursacht. Ich wiederhole noch einmal, daß ihr euch eure eigene Realität schafft; und dazu gehört auch das Wetter(Realität, 12)

 

Um euren Körper umzugestalten, müßt ihr eure Glaubenssätze ändern, selbst angesichts physischer Daten, die euch das Gegenteil zu beweisen scheinen.“ (Realität, 39)

 

Überhaupt könnt ihr euer äußeres Erscheinungsbild aufgrund eurer Ideen und Glaubenssätze tiefgreifend verändern.“ (Realität, 39)

 

Wie gesagt, ihr werdet nicht krank, wenn ihr euch für gesund haltet(Realität, 46)

 

Lebt ihr in Armut, kann euch statt dessen Reichtum umgeben.“ (Realität, 2)

 

Niemand stirbt, ohne sich dafür entschieden zu haben.“ (Realität, 51)

 

(Hervorhebungen von mir, Klaus)

 

 

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1 Ähnlich: Ihr „schafft(Realität, 11), „gestaltet(Realität, 18), „schafft(Realität, 24), ... eure eigene Realität.

 

 

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1.2 Probleme der Seth-Rezeption

 

1.2.1 Wer ist Seth?

 

Seth ist „keine physische Persönlichkeit(Realität, 3). Er ist „Energie(Weg, 147), „eine Persönlichkeit in Grund-Energie-Form (ebd.). Ihm „steht grenzenlose Energie zur Verfügung(Weg,148). Laut Jane Roberts handelt es sich bei ihm um „eine klar umrissene Personifikation eines Multiweit- oder Multirealitäts-Bewußtseins, das möglicherweise unsere gegenwärtigen Vorstellungen von Persönlichkeit sehr wohl übersteigen könnte.“ (Phänomen,158) oder auch um eine „Trans-Welt-Wesenheit“, „eine Existenz, die innere und äußere Ereignisse überspannt.“ (Phänomen, 227)

 

Seth ist „mehr Tode gestorben, als“ ihm „zu erwähnen lieb ist“. (Gespräche, ohne Seitenangabe) Er „bereist“ „viele andere Existenzebenen, um“ seinen „Pflichten zu obliegen, die vornehmlich die eines Lehrers und Erziehers sind“. (ebd.)

 

Was ich bin, ist schwer zu erklären, nicht nur wegen der gegebenen Beschränkung eures Wissens, sondern auch wegen unserer gegenwärtigen Kommunikationsmethode.“ (Weg, 147)

 

 

1.2.2 Seths Wissensvorsprung

 

Als solches uns normalen Sterblichen weit überlegenes Wesen weist er verschiedentlich auf seinen Wissensvorsprung hin sowie auf die begrenzten Kenntnisse und Fähigkeiten unserer Wissenschaft-ler. So zum Beispiel in Der Weg zu Seth:

 

Ihr oder eure Wissenschaftler sind sich bislang vieler Grundgesetze nicht bewußt, die solche Dinge wie meine Struktur regeln ...“ (S. 148)

 

Es ist schwierig, euch das zu erklären ...“ (S. 116)

 

Anhänger wissenschaftlicher Überprüfbarkeit, aber auch Normalverbraucher mit einer gesunden Portion Skepsis stehen angesichts einer derartigen Überlegenheit vor dem Problem, wie sie mit den Aussagen des Meisters umgehen sollen. Beweise können sie von ihm nicht erwarten - s.u.

 

 

1.2.3 Diverse Realitäten

 

In Seths Weltbild gibt es mehrere Realitäten, von denen unsere physische nur einen kleinen Ausschnitt darstellt - für Seth handelt es sich hierbei um ein „physisches Verschleierungssystem“, um „physische Verschleierungsstrukturen“, um ein „physisches Verschleierungsuniversum“. (alle: Weg, 46)

 

Da wir des weiteren etliche der anderen Realitäten nur mit unserem „inneren Auge(Phänomen,17), mit unseren „inneren Sinnen(ebd.) wahrnehmen können, ist Seth konsequenterweise der Meinung:

 

Das Beharren auf Beweisen in der Form von Gegebenheiten der äußeren Sinne ist (...) lächerlich ...“ (Weg,83)

 

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1.3 Ist Seths knackiger Slogan irreführend?

 

Eine explizite Definition dessen, was Seth unter Realität versteht, habe ich in den von mir benutzten Quellen nicht finden können. Es erscheint mir allerdings legitim, aus den weiter oben angeführten Zitaten Rückschlüsse zu ziehen. So ist von Gegenständen die Rede, von der Welt, von der Umwelt, vom Wetter, vom Körper, von unserem äußeren Erscheinungsbild, von Krankheit, von Armut und Reichtum, vom Tod.

 

In Das Seth-Phänomen führt Jane Roberts die „dreidimensionale Realität unseres Raum-Zeit-Kontinuums(S. 144) an, erwähnt „die physische Realität“, „unsere Realität(beides S. 158) sowie „die Tatsache, daß unsere Erfahrung von Realität und Ereignissen ...(S. 258).

 

Dies alles deutet darauf hin, dass es bei Seth um einen Realitätsbegriff geht, der im Großen und Ganzen unserem Alltagsverständnis entspricht. (Von den anderen Realitäten war weiter oben bereits die Rede.)

 

Ich schlage deshalb in unserem Zusammenhang folgende Definition vor:

 

Realität ist die Gesamtheit der natürlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Sachverhalte, Tatsachen, Umstände, ...1

 

Seth spricht uns in der Mehrzahl (ihr, eure) an. Dies könnte den Schluss nahelegen, dass es sich beim Formen, Machen, Gestalten, Schaffen (alle Formulierungen finden sich in „Realität“) unserer Realität um ein gemeinsames Projekt handeln soll.

 

Das Wetter scheint sich hierfür anzubieten:

 

Eine jede eurer Gefühlsregungen setzt Hormone frei, die euch aber ebenso verlassen wie euer Atem; und in diesem Sinne könnte man sagen, daß ihr Chemikalien an die Luft abgebt, die diese dann beeinflussen.

     Durch solche Wechselwirkungen werden dann Stürme verursacht. Ich wiederhole noch einmal, daß ihr euch eure eigene Realität schafft; und dazu gehört auch das Wetter, es stellt das kollektive Ergebnis eurer individuellen Reaktionen dar. (Realität,12)

 

Allerdings kann man in diesem Fall - da es sich offenbar um unbewusste und ungerichtete Prozesse handelt - mit viel gutem Willen möglicherweise von gemeinsam, aber wohl kaum von einem Projekt sprechen.

 

Der Verweis auf das Individuum als Zielperson macht deutlich, dass an Gemeinsamkeit hier tatsächlich nicht gedacht ist:

 

Ich schreibe dieses Buch, um jedem von euch seine persönlichen Probleme lösen zu helfen. Ich hoffe, das zu tun, indem ich euch sage, wie ihr eure eigene Realität formt, und euch Mittel und Wege aufzeige, wie ihr sie zu eurem eigenen Vorteil umformen könnt.“ (Realität, 2 - Unterstreichungen von mir, Klaus)

 

Die angesprochenen Mittel und Wege sowie das dahinter stehende Weltbild werde ich hier nicht weiter behandeln. Mir geht es vielmehr um die Frage, ob Seths Behauptung „Ihr schafft eure eigene Realität“ ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird .

 

 

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1 Alle diese Begriffe sind ihrerseits wieder definitionswürdig. Der Versuch, diese Aufgabe zu lösen, würde ein Fass ohne Boden aufmachen.

   Um meinen Gedankengang zu verdeutlichen, mag die obige Formulierung hoffentlich ausreichen.

 

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1.3.1 Ihr schafft eure eigene Realität - wie geht das?

 

In diesem Prozess greifen unbewusste und bewusste Komponenten ineinander. Gedanken und Gefühle haben physische Auswirkungen - nicht nur auf unseren Körper, sondern - wie Seths Beispiel vom Wetter zeigt - auch auf die äußere Welt. Um in unserem Sinne positive Wirkungen zu er-zeugen, gilt es, unsere „Glaubenssätze“ zu überprüfen und entsprechend anzupassen.

 

Mit den Worten von Seth:

 

Auf unbewußter Ebene ordnet ihr die Atome und Moleküle, und diese bilden die Zellen, aus denen euer Körper aufgebaut ist. Doch der Plan dafür wird von euren dem Bewußtsein einverleibten Glaubenssätzen angelegt.(Realität, 39) 

 

Und:

 

Überhaupt könnt ihr euer äußeres Erscheinungsbild aufgrund eurer Ideen und Glaubenssätze tiefgreifend verändern.

     Diese stellen den Plan dar, nach dem ihr - wissentlich oder unwissentlich - euren Körper gestaltet. Euer Körper ist ein Kunstwerk, das auf unbewußten Ebenen erschaffen und dauernd am Leben erhalten wird, und zwar in Übereinstimmung mit euren Überzeugungen darüber, was und wer ihr seid. (ebd.)

 

Seth betont hier die zentrale Bedeutung der im Bewusstsein verankerten Glaubenssätze. Diese gilt es unseren Zielen gemäß zu gestalten, um die Realität zu beeinflussen oder - wie Seth sagt - zu schaffen(?).

 

Um unabhängig zu handeln, müßt ihr anfangen, erwünschte äußere Entwicklungen in die Wege zu leiten, indem ihr sie innerlich erschafft. Dies läßt sich dadurch bewerkstelligen, daß man Glauben, Gefühl und Imagination kombiniert und diese zu einem Vorstellungsbild des ersehnten Zustandes gestaltet. Natürlich ist das gewünschte Resultat damit noch nicht eingetreten ...(Realität, 49)

 

Da ihr euch eures Seins bewußt seid, formt ihr eure physische Realität durch die Inhalte eures Bewußtseins.“ (Realität, 54)

 

Ohne Mühe geht das nicht:

 

Dies bedeutet nicht etwa, daß Anstrengung und feste Entschlossenheit nicht erforderlich wären.“ (Realität, 2)

 

Hat sich das Bewußtsein jedoch einmal eine Kollektion widersprüchlicher Glaubenssätze zugelegt, dann wird, um Ordnung zu machen, eine entschiedene Anstrengung nötig.“
(Realität, 16)

 

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1.3.2 Ein Tisch macht keine Wirklichkeit

 

Die bewusste Gestaltung von Glaubenssätzen (einschließlich der damit sehr wahrscheinlich verbundenen Anstrengung) ist demnach notwendige Voraussetzungen für das Erzeugen der gewünschten Realität. Wird dabei aber die Realität geschaffen? Meine Realität? Elemente der Realität? Oder wird Realität lediglich beeinflusst, umgeformt, werden ihr einzelne Elemente hinzugefügt?

 

Fangen wir einmal mit dem gewaltigsten an - dem Universum:

 

Euer Bewußtsein gestattet es euch, nach außen in das Universum zu blicken, um dort das

Spiegelbild eurer geistigen Aktivitäten zu schauen und um eure individuellen und kollektiven Schöpfungen wahrzunehmen und zu beurteilen.(Realität, 15)

 

Diese Formulierung scheint nicht auszuschließen, dass es sich beim Universum um das Spiegelbild unserer geistigen Aktivitäten handelt. Möglicherweise redet Seth aber auch von einzelnen Bestand-teilen des Universums (Blick in es, nicht auf es)? Das wären dann Sterne und Planeten?

 

So oder so handelt es sich - wie beim Wetter - zumindest teilweise um kollektive Schöpfungen.

 

Das Universum als gedankliches Resultat eines Einzelnen anzusehen würde bedeuten, diesem einen gottähnlichen Status zuzusprechen, und so etwas wäre schon eine explizite Erwähnung wert. Dieser Fall scheint also nicht vorzuliegen.

 

Wenn das Universum oder einzelne seiner Bestandteile aber kollektives Ergebnis individueller Denk- und Empfindungsprozesse ist - was bedeutet dies für den Anteil des Einzelnen? Kann man berechtigterweise behaupten, dieser habe seine Realität geschaffen? Hat er nicht vielmehr einen (wie groß oder klein dieser immer sein mag) Anteil an einer Realität, die ohne diesen seinen Beitrag in unmerklich veränderter Form eh existieren würde?

 

Ähnlich verhält es sich mit Gegenständen:

  1. Der Tischler tischlert (manuell) einen Tisch und erzeugt damit einen Gegenstand - aber keine neue Realität. Die Gesamtheit der natürlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Sachverhalte, Tatsachen, Umstände, ... bleibt - abgesehen von dem Tisch - unverändert.
    (Auch bei Seth ist meines Wissens nicht die Rede davon, dass mit dem traditionellen Produzieren eines Gegenstandes die Realität neu erschaffen würde.)

  2. Der Tischler bringt den Tisch kraft seiner Geisteskräfte hervor und erzeugt damit einen Gegenstand - aber keine neue Realität. Die Gesamtheit der natürlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Sachverhalte, Tatsachen, Umstände, ... bleibt - abgesehen von dem Tisch - unverändert.

Der einzige Unterschied zwischen den beiden Fällen liegt in der Herstellungsmethode. Wie aber kann die Anwendung der von Seth empfohlenen Methode eine neue Realität erschaffen?

 

Nun, indem unser Tischler ob seines Verfahrens berühmt wird, im Fernsehen auftritt, Werbeverträge abschließt, die Rechte an seiner Geschichte einem Bestsellerautor überträgt, superreich wird, in neue soziale Kreise „aufsteigt“, dem manuell betriebenen Tischlerhandwerk samt 8-Stunden-Tag entsagen darf, kurz: sein gesamtes Leben umgestaltet.

 

Ihr merkt: Wir gleiten ganz langsam von der rationalen Betrachtung eines Sachverhalts ins Phantastische, Märchenhafte ab. Und selbst wenn dieses Märchen wahr würde: Wir hätten einen Einzelfall vorliegen. Die Verhältnisse von Menschen, die zwar ebenfalls auf geistigem Wege Gegenstände erzeugen, sich aber nicht entsprechend vermarkten, würden sich nicht wesentlich ändern. Für sie scheint Seths Regel demnach nicht zu gelten.

 

Sollten sie allerdings wie der Tischler den Weg in die Öffentlichkeit suchen und so mit diesem in Konkurrenz treten, würde mit jedem weiteren Akteur auf diesem Gebiet die Exklusivität und damit die Popularität und so auch die Profitabilität des Ersteren nachlassen, bis der Ertrag aus dem geistig erzeugten Gegenstand dem des manuell produzierten gleichkäme. Damit aber wären die Ressour-cen für das Schaffen einer neuen Realität - s.o. - verloren.

 

Ergo: Seths Regel scheint sowohl im ersten wie auch im zweiten Fall für den Durchschnitts-menschen keine Gültigkeit zu haben.

 

Das Ändern körperlicher Merkmale - wiederum ist die Art des Hervorbringens (Fitnessstudio oder Meditationsübung) unerheblich - erschafft nicht die Realität der betreffenden Person, sondern verbessert sie hoffentlich, so die Modifikationen von ihr selbst und ihren Mitmenschen positiv bewertet werden.

 

Anders wären Fälle zu würdigen, bei denen es um die Korrektur schwerwiegender körperlicher Missbildungen, die Heilung schwerer Krankheiten, die Beseitigung extremer Armut ginge.

 

Auch in einer solchen Situation wäre die Gesamtheit der natürlichen und gesellschaftlichen Sachverhalte weiterhin präsent, für den Betroffenen allerdings würde sich sein Leben von Grund auf ändern, es würde wohl gar neu beginnen. In der Redewendung vom neuen Leben, das jemandem geschenkt wurde, steckt insofern ganz sicher ein Stück Wahrheit.

 

Und wie verhält es sich mit dem Tod? Schafft der Sterbende mit seinem Ableben seine eigene Wirklichkeit? Dem traditionellen Verständnis entsprechend endet mit dem Leben auch die Wirklichkeit des Hinscheidenden. Für Seth hingegen ist es

 

natürlich, nach dem Tod weiterzuleben. (...) Euer Leben vor und nach dem Tode ist eine genauso normale Erscheinung wie eure gegenwärtige Existenz.“ (Realität, 52)

 

Und:

 

Wie schon gesagt, verwandeln wir uns nach dem Tod möglicherweise in ein schwarzes Loch ...

(Phänomen, 279)

 

Dies würde in der Tat bedeuten, dass der von uns Gegangene sich eine völlig neue Realität geschaffen hätte. Aber - hätte er sie tatsächlich geschaffen? Starb er nicht gegen seinen Willen - aus biologischen Gründen oder weil er abberufen wurde?

 

Seth dazu:

 

Niemand stirbt, ohne sich dafür entschieden zu haben.“ (Realität, 51)

 

Die letztgenannten Szenarien mögen es rechtfertigen, vom Erschaffen einer eigenen Realität zu reden. Allerdings müsste hierfür die Bedingung erfüllt sein, dass der Betreffende die Änderung seiner Situation tatsächlich selbst und mittels der von Seth empfohlenen Methode herbeigeführt hat.

 

Ist es gerechtfertigt, auf Grundlage solcher vermutlich extrem seltener Fälle eine allgemeine Regel für alle Menschen aufzustellen?

 

Ich werde im zweiten Teil meiner Arbeit auf diese Frage zurückkommen.

 

Seth selbst führt übrigens vereinzelt Grenzen für das Schaffen einer jeweils eigenen Realität an:

 

Für den Augenblick setzen wir einmal voraus, daß ihr euch nicht ein einhalb Meter größer machen wollt, als es andere Erwachsene sind; andernfalls würdet ihr an die Grenzen bestimmter physischer Gesetze stoßen.(Realität, 39)

 

Und:

 

Ihr wünschtet vielleicht gelegentlich, ein regnerischer Tag wäre ein sonniger, aber ihr stellt euch dann nicht ans Fenster und leugnet ab, daß der Regen fällt oder daß die Luft kalt und der Himmel dunkel ist. Daß ihr den Regen als eine momentan gegebene Realität akzeptiert, bedeutet noch längst nicht, daß ihr g l a u b e n m ü ß t, alle Tage seien regnerisch, ...
(Realität, 57)

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1.3.3 Fazit

 

Seths Behauptung „Ihr schafft eure eigene Realität“ trifft - folgt man meiner vorstehenden Analyse - lediglich auf extrem wenige Fälle zu: die Selbstheilung bedeutender körperlicher Missbildungen und bedrohlicher Krankheiten, die Selbstbefreiung aus furchtbarer Armut, das bewusste Wählen des Todes, ... - dies alles jeweils mit Hilfe der von Seth vorgeschlagenen Änderung der Glaubenssätze.

 

Seths These scheint demnach einer kritischen Prüfung nicht in Gänze standzuhalten. Zutreffender wären möglicherweise Varianten, welche die Kraft der Glaubenssätze eher als Möglichkeit denn als Tatsache benennen, etwa:

 

Ihr könnt eure eigene Wirklichkeit beeinflussen“ oder „... verbessern“ ... oder ...

 

Damit würde seine Regel allerdings ihrer Pointiertheit, ihrer Exklusivität und Originalität verlustig gehen, Seth verlöre sein Markenzeichen. Die von mir vorgeschlagene Formulierung (die dem gegebenen Sachverhalt nach meinem Dafürhalten eher entspricht) drückt nichts Besonderes aus. So etwas behauptet jeder Therapeut, es findet sich in jedem Lebenshilfebuch.

 

Wobei Seths umfassende Lehre einen solchen - auf mich fast schon reißerisch wirkenden - Eyecatcher gar nicht nötig hat. Seth vermittelt (wie ich nach meinen bisherigen „Studien“ den Eindruck habe) ein umfassendes Weltbild und hebt sich schon dadurch von allen „normalen“ Lebensberatern deutlich ab. Seine Lehre enthält allerdings auch eine Reihe metaphysischer1

Voraussetzungen, die nicht jeder ohne Weiteres zu akzeptieren bereit sein dürfte.

 

Das ist aber ein anderes Thema ...

 

So endet der erste Teil meiner kleinen Arbeit.

 

Wer nun noch kann, blättert weiter zum zweiten Teil:

 

Seth - ein Sympathisant des Neoliberalismus?

.

 

 

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1 Unter „metaphysisch“ verstehe ich hier nicht nur Phänomene, die „jenseits des Physischen“ gesehen werden, wie Reinkarnation, Telepathie,

   präkognitive Träume, ..., sondern Grundfragen der Philosophie betreffende Themen: Was macht die fundamentale Struktur der Realität aus?

   Woraus besteht die Welt? Was gibt es: Raum, Zeit, Kausalität, Seele, freier Wille, ...?

 

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2. Seth - ein Sympathisant des Neoliberalismus?

 

2.0 Einleitung

 

Nachdem ich im ersten Teil die Allgemeingültigkeit von Seths Regel

 

Ihr schafft eure eigene Wirklichkeit

 

in Frage gestellt habe, möchte ich nun ihre aus meiner Sicht bedenkliche Nähe zum neoliberalen Credo der Eigenverantwortung zum Thema machen.

 

Ich werde zunächst kurz skizzieren, welche Funktion der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek dem Markt zuschreibt und welche Folgen der Sieg der neoliberalen Idee auf den Einzelnen sowie auf unsere Gesellschaft hat. Sodann stelle ich Seths Leitsatz Aussagen von neoliberalen Politikern gegenüber und beurteile einige weitere Sethsche Thesen. Wobei - gemessen an meiner sehr scharfen Kritik des Neoliberalismus - mein Urteil über Seth recht milde ausfällt.

 

Folgende Punkte werde ich behandeln:

 

2.0 Einleitung

2.1 Die Weisheit des Marktes

2.2 Neoliberale Politik

2.3 Menschen leiden

2.4 Agenda 2010 und die Eigenverantwortung

2.4.1 Schröder, Clemens, Seth - im Einklang?

2.5 Im Reparaturbetrieb des Kapitals

2.6 Meller Philosophen verändern die Welt![?]

2.7 Seth - ein Sympathisant des Neoliberalismus?

 

 

2.1 Die Weisheit des Marktes

 

Friedrich August von Hayek gilt als einer der als wichtigster Vertreter des Neoliberalismus. Nachfolgend einige seiner Äußerungen zur Funktion des Marktes1 (Fettdruck von mir, Klaus):

 

Der Markt generiert objektives Wissen. Er ist ein „Mechanismus zur Nutzung verstreuter Informationen“ (Hayek 1996, 14). Er enthält und schafft Wissen, „das kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation besitzen und erfinden könnte.“ (Hayek 1996, 76, Hervorhebungen im Original) Es handelt sich bei ihm um einen überbewussten Mechanismus, „der oberhalb der Bewusstseinsinhalte [der einzelnen Individuen] operiert ...“ (Hayek 1967, 61, eigene Übersetzung). „[D]ie Funktion der Preise (...) ist, den Menschen zu sagen, was sie tun sollen“ (Hayek 1996, 272). Es handelt sich hierbei um eine „höhere überpersönliche Weisheit“ (Hayek 1971, 38).1

 

Die höchste Form der Rationalität ist bei Hayek die Unterwerfung unter „den Markt“. Die Vernunft selbst – respektive das, was von ihr noch übrig geblieben ist – wird an die „erweiterte Ordnung“ angebunden. Die menschliche Vernunft besteht aus

 

„dem Vermögen, bestimmte Umstände herauszufinden, das nur dann effektiv wird, wenn die Prozessoren dieses Wissen [sic] durch den Markt informiert werden.“ (Hayek 1990, 182, eigene Übersetzung)

 

Damit sind substantielle Teile der menschlichen Kommunikation ohne die „überbewussten“ Prozesse „des Marktes“ nicht möglich (vgl. Sechrest 1998, 42). Vernunft ist für Hayek ein Prozess und „der Wettbewerb“ die „Verkörperung der Vernunft als Prozess“ (Arnsperger 2008, 91).

 

Fast könnte man in der obigen Beschreibung des Marktes eine Personifizierung sehen, eine Art Überbewusstsein, vielleicht gar eine Vergötterung ... oder anders: eine Art Naturgesetzlichkeit ... in jedem Fall etwas, gegen das zu handeln nur auf Kosten der Rationalität möglich ist.

 

 

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1 Die nachfolgenden Zitate auf dieser Seite stammen aus:

   Ötsch, Walter: Wissen und Nicht-Wissen angesichts "des Marktes": Das Konzept von Hayek, S. 5 

     https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjxoOu7ov_rAhUVolwKHU_TDh0QFjAAegQIBBAB&url=https%3A%2F%2Fwww.econstor.eu%2Fbitstream%2F10419%2F197217%2F1%2Foek43.pdf&usg=AOvVaw37_u24IlRyvQB0DlQfRy2G

   [PDF-Format => ggf. im Download-Ordner des Windows-Explorer oder dem entsprechenden Dateiverzeichnis nachschauen]

 

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2.2 Neoliberale Politik

 

Genau solches Denken hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte durchgesetzt.1 Mittlerweile werden politische Entscheidungen davon abhängig gemacht, was die Märkte dazu sagen2. Deren besorgnis-erregende Macht resultiert allerdings gerade aus eben jener Politik, die Markterwägungen zum Maßstab des Handelns gemacht und ehemals bestehende Regeln für das Funktionieren der Märkte abgebaut hat.

 

Die negativen Auswirkungen neoliberal motivierter Politik ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche. Wie Hayek „gegen Staatsbeteiligungen, Umverteilungen, Gewerkschaften, soziale „Zwangsversicherungen“ und zuweilen auch ordnungspolitische Rahmensetzungen zu Felde zog3“, so taten dies auch seine Nachfolger und Anhänger - mit Erfolg: Flexibilisierung, Kommerzialisie-rung, Privatisierung, Deregulierung, Finanzialisierung, Schleifen der Sozialsysteme, Abbau der Tarifautonomie, Einschränkung von Gewerkschaftsrechten, ...

 

Jeder einzelne dieser Begriffe ist diskussionswürdig, und der Zusammenhang zur neoliberalen Ideologie (und Politik) wäre jeweils zu belegen. Das kann und will ich hier nicht leisten. Ich möchte lediglich zeigen, dass es sich beim Neoliberalismus nach meinem Verständnis um eine ausge-sprochen negative Einrichtung mit fatalen Wirkungen für die Mehrheit der Menschen handelt, woraus ich die Berechtigung meiner Kritik an Seth ableite.

 

 

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1 „Als Hayek 1947 mit der Mont Pelerin Society die erste Organisation gründete, die die neoliberalistische Doktrin verbreiten sollte, wurde

   sie von Millionären und ihren Stiftungen finanziell unterstützt. (...)

   George Monbiot: Neoliberalismus - Die Ideologie an der Wurzel all unserer Probleme

   https://www.blickpunkt-wiso.de/post/neoliberalismus-die-ideologie-an-der-wurzel-all-unserer-probleme--1893.html

2 Sogar von einer „marktkonformen Demokratie“ ist bereits die Rede. Oder mit den Worten von Frau Merkel:

   „Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist,

   ...

   https://archiv.bundesregierung.de/archiv-de/dokumente/pressestatements-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-und-dem-ministerpraesidenten-der-republik-portugal-pedro-passos-coelho-848964

3 Dieter Schnaas: Von Hayek - Anti-Sozialist und Weltverbesserer

   https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/von-hayek-anti-sozialist-und-weltverbesserer/5794634-all.html

 

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2.3 Menschen leiden

 

Menschen leiden, wenn sie wegen der hohen Mieten für ehemals kommunale, mittlerweile privati-sierte Wohnungen Gefahr laufen, ihre Bleibe zu verlieren. Sie leiden, wenn sie als Angestellte einer privaten Reinigungsfirma, ausgelagert aus einem vormals kommunalen, nun privatisierten Kranken-haus die gestiegenen und weiter steigenden Arbeitsanforderungen nicht erfüllen können.

 

Um es noch einmal deutlich zu machen: Hayeks Ausführungen zum Markt beziehen sich nicht nur auf den Markt für Schweinebäuche. Überall da, wo getauscht wird, gelten die Marktgesetze. Auch auf dem Arbeitsmarkt, und wie es scheint, gelten sie zunehmend auch auf dem Markt der mensch-lichen Beziehungen.

 

Insofern leiden Menschen auch ganz unabhängig von ihrem Status als Mieter, Arbeiter, Arbeitsloser, Hartz-IV-Empfänger, Obdachloser, Armutsrentner, ... Sie leiden unter dem durch die Vermarkt-lichung tendenziell aller Lebensbereiche hervorgerufenen, den Neigungen des Menschen als soziales Wesen diametral entgegengesetzen Zwang zur Vereinzelung, zur Abschottung gegen die Anderen, die ihnen zunehmend nicht als Mitmenschen, sondern als Konkurrenten gegenübertreten.

 

Und wer sich für den Markt fit machen, wer seines Glückes Schmied sein will, für den gilt nicht mehr die Losung „Sei du selbst, akzeptiere deine Grenzen und Schwächen, sondern: Werde immer besser! (...) Die perfide Leistungslogik zwingt mich, mich selbst zu überholen. Wenn ich etwas erreicht habe, will ich mehr erreichen. Also ich will mich selbst überholen. Aber es ist ja nicht möglich, sich selbst zu überholen. Diese absurde Leistungslogik führt am Ende zum Kollaps. Wir denken, wir verwirklichen uns, wir optimieren uns, aber in Wirklichkeit beuten wir uns aus.1

 

 

 

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1 Byung-Chul Han über Psychopolitik - Wie der Kapitalismus uns zu Selbstausbeutern macht

   https://docplayer.org/256215-Swr2-aula-wie-der-kapitalismus-uns-zu-selbstausbeutern-macht-aspekte-einer-psychopolitik-von-byung-chul-han.html

 

 

 

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Den Autoren [einer Studie] zufolge hat die neoliberale Meritokratie gnadenlose Bedingungen geschaffen, in denen jede Person ihre eigene Markenbotschafterin, alleinige Vertreterin ihres Produktes (sie selbst) und Maklerin ihrer eigenen Arbeitskraft in einem allumfassenden Wettbewerb ist.Eine Konsequenz des damit verbundenen Perfektionismus „ist (...) eine Reihe von Epidemien schwerer psychischer Erkrankungen.“1

 

Vereinzelung und Isolation nehmen zu:

 

Das neoliberale Subjekt als Unternehmer seiner selbst ist nicht fähig zu Beziehungen zu anderen, die frei vom Zweck wären. Zwischen Unternehmern entsteht auch keine zweckfreie Freundschaft.2

 

Alle diese Dinge machen krank.

 

Eine neue Studie von Thomas Curran und Andrew Hill, veröffentlicht in der Zeitschrift „Psychological Bulletin“, kommt zu dem Ergebnis, dass der Perfektionismus sich immer weiter ausbreitet. Die beiden britischen Psychologen stellen fest, dass „diese Generation junger Menschen wahrnimmt, dass andere mehr von ihnen verlangen, dass sie mehr von anderen verlangen, und dass sie mehr von sich selbst verlangen“ (...) Eine Konsequenz dieses Anstiegs des Perfektionismus ist Curran und Hall zufolge eine Reihe von Epidemien schwerer psychischer Erkrankungen.3

 

Durch die Verabsolutierung des Marktes und den Primat des Konkurrenzdenkens reproduziert der Neoliberalismus beständig die Voraussetzungen für sein optimales Funktionieren im Sinne weniger Profiteure wie auch für seine Systemstabilität: In erbittertem Wettbewerb stehende atomisierte Marktteilnehmer sind außerstande, die zur Geltendmachung objektiv gemeinsamer(!) Interessen wie auch die zur Überwindung dieses menschenfeindlichen Systems erforderliche Solidarität zu entwickeln.

 

Marktkonformes Leben, Wettbewerb als das einzig legitime Organisationsprinzip menschlichen Handelns hat also seinen Preis. Für denjenigen, dem dieser zu hoch erscheint, der sich nicht um jeden Preis dem Markt unterwerfen, sich nicht unter Wert verkaufen will, wurde Anfang der 2000er Jahre die Sozialgesetzgebung geändert.

 

 

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1 Meagan Day: Im Neoliberalismus darfst du dein eigener Chef sein

   https://adamag.de/neoliberalismus-perfektionismus-callout-entfremdung-psychologie

2 Byung-Chul Han, a.a.O.

3 Meagan Day, a.a.O.

Seite 12/19

 


 

2.4 Agenda 2010 und die Eigenverantwortung

 

Womit wir bei der Agenda 2010 wären, deren Maßnahmen von Kanzler Schröder mit den Worten „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“ angekündigt und mit dem Aufruf zur

 

Selbstverantwortung

 

des Individuums gerechtfertigt wurden.

 

Für die ideologische Flankierung dieses Angriffs auf den Sozialstaat war gesorgt: Von Vollkasko-mentalität war fürderhin die Rede, von Risikoscheu, bloßem Besitzstandsdenken, von der notwendigen härteren Gangart gegenüber Leistungsunwilligen und Langzeitarbeitslosen. Deutschlands Weltmarktstellung galt es nachhaltig zu stärken. Und: Es sei halt viel komforta-bler, sich vom Staat aushalten zu lassen, als sich anzustrengen und etwas zu leisten, hieß es.

 

Bundeskanzler Gerhard Schröder und der britische Premier Tony Blair regten demgemäß 1999 an, „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung“ um-zuwandeln.1

 

Dies war Teil einer politischen und ideologischen Offensive, die zur Auflösung bisher gültiger Leitsätze führte. Hayek hätte seine Freude daran gehabt. Die Ich-AG2, nach meinem Empfinden das Symbol des Neoliberalismus, war offizieller Bestandteil des Hartz-Konzeptes3, das als wesentliche Grundlage für die Agenda 2010 diente. Die Ich-AG macht deutlich: Jeder hat die Verantwortung für sich, ist sich selbst der Nächste, ist seines eigenen Glückes Schmied, ...

 

 

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1 Christoph Butterwegge: Neoliberale Reformen im und gegen den Sozialstaat

   www.memo.uni-bremen.de/docs/m3407.pdf

   [PDF-Format => ggf. im Download-Ordner des Windows-Explorer oder dem entsprechenden Dateiverzeichnis nachschauen]

2 „Der Begriff wurde von den Autoren des Hartz-Konzeptes geprägt, ist jedoch nicht amtlich.“

   https://de.wikipedia.org/wiki/Ich-AG

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Hartz-Konzept

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2.4.1 Schröder, Clemens, Seth - im Einklang?

 

In diese Ideologie scheint sich - zumindest auf den ersten Blick - Seths Aussage

 

Ihr schafft eure eigene Realität

 

samt diverser erläuternder Äußerungen harmonisch einzuschmiegen ...

 

... wie die folgende Gegenüberstellungen einiger Aussagen von Vertretern der neoliberalen Agandapolitik mit Seth-Zitaten zeigen soll (Farbige Hervorhebungen von mir, Klaus):

 

  • Gerhard Schröder, Hauptverantwortlicher für die Agenda 2010:

    ... sagte der frühere SPD-Chef. Zugleich mahnte er, die Balance zwischen Fördern und Fordern müsse gewahrt bleiben; auch Arbeitslose seien zunächst einmal für sich selbst verantwortlich.“1

  • Wolfgang Clement, führender Sozialdemokrat, NRW-Ministerpräsident und „Superminister“ in der Schröder-Regierung:

    Clement: Wir können zum Beispiel unser Gesundheitssystem nicht so weiterfahren wie bisher. Es muss ein stärkerer privater Anteil hinein. Genauso wie in der Renten- und in der Pflegeversicherung. Mehr Eigenverantwortung heißt die Lösung.
    (...)
    Clement: .... Wir müssen sagen: Mensch, du bist für dich selbst verantwortlich.2, 3
    (Fettdruck im Original, Klaus)

  • Seth:

    Ihr seid für eure Erfolge und euer Glück selber verantwortlich. Lebensbereiche, die euch nicht zufrieden stellen, lassen sich verändern, nur müßt ihr die Verantwortung für euch voll auf euch nehmen. ... Ihr seid nicht da, um über die Misere des menschlichen Daseins zu jammern.“ (Realität, 15)

 

 

 

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1 https://www.faz.net/aktuell/politik/streit-ueber-arbeitslosengeld-agenda-2010-sind-nicht-die-zehn-gebote-1491026.html

2 https://www.sueddeutsche.de/politik/clement-lafontaine-spd-1.524959-2 19. Dezember 2007

3 „Im August 2005 brachte das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit die Broschüre „Vorrang für die Anständigen – Gegen

   Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ heraus. Für diese Broschüre aus seinem Haus schrieb Clement das

   Vorwort.[11] In der Broschüre wird unter anderem suggeriert, dass ein Großteil der ALG-II-Empfänger die staatlichen Unterstützungen

   nicht rechtmäßig erlange. Jedoch sind keine Untersuchungen oder Statistiken dazu in der Broschüre enthalten. Sie stützt sich auf

   Einzelaussagen, in denen unter anderem die Begriffe Schmarotzer, Trittbrettfahrer, Abzocker und Parasiten benutzt wurden. Die oben

   genannte These der Broschüre und deren Begriffe „Schmarotzer“ und „Parasiten“ wurden in der Boulevardpresse bundesweit

   verbreitet.

        Im Sommer 2005 löste Clement eine Welle der Entrüstung aus, als er in der Talkshow Sabine Christiansen für Arbeitslosengeld II

   eine Missbrauchquote von zehn, später sogar zwanzig Prozent behauptete und Hartz-IV-Empfänger wiederum indirekt mit Parasiten

   verglich. Eine wissenschaftliche Expertise des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wies im weiteren Verlauf dann den tatsächlichen

   Missbrauch bei 2 bis 3 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften empirisch anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes nach.[12]“

   https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Clement

 

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Die inhaltliche Übereinstimmung ist offensichtlich. Einige weitere Seth-Zitate mögen dies verdeutlichen:

 

Fehlt es aber an der Gesundheit, an sinnvoller [sic!] Arbeit, an Fülle und Überfluß und umgibt euch eine Welt von Sorgen und Übeln, dann müßt ihr den Schluß ziehen, daß mit euren Glaubensüber-zeugungen etwas nicht stimmt, und ihr müßt diese überprüfen.“ (Realität, 19)

 

Aus Seths Sicht mag das alles zutreffen. Auf einen Jugendlichen aus einer Hartz-IV-Familie, auf einen gerade an Corona Erkrankten könnten Behauptungen wie die vorstehenden und auch wie die folgende - obwohl ganz gewiss nicht so gemeint! - allerdings auch ein klein wenig zynisch wirken:

 

Seid ihr zum Beispiel auf Armut, Krankheit oder Mangelzustände eingestellt, so enthält euer Bewußtsein dennoch auch die latenten Vorstellungen von Gesundheit, Kraft und Überfluß. Wendet ihr eure Gedanken von den negativen Vorstellungen ab und den positiven zu, so wird aufgrund dieser Konzentrationsleistung das Gleichgewicht sofort [sic!] wieder hergestellt.“ (Realität, 31)

 

Derlei Sprüche wiederholen sich:

 

Tatsache ist jedoch, daß ihr euch den Typ eurer Krankheit entsprechend der Natur eurer Glaubens-sätze selber auswählt. Ihr seid gegen Krankheit immun, solange ihr von eurer Immunität überzeugt seid. (Realität, 41)

 

Wie gesagt, ihr werdet nicht krank, wenn ihr euch für gesund haltet. (Realität, 46)

 

Was sagt der wegen langjähriger Berufstätigkeit von einer Asbeststaublungenerkrankung Betroffene dazu? Oder der tödlich an einem Krankenhauskeim Erkrankte? Sind alle vom Coronavirus Befalle-nen selbst schuld?

 

Manche Krankheit wirkt im Verborgenen. Der Betroffene hält sich für gesund, erfüllt damit die von Seth als ausreichend genannte Voraussetzung - und ist dennoch todkrank.

 

Die von Seth aufgestellten Behauptungen lassen sich nicht widerlegen noch beweisen, wobei Letzteres von Seth, wie wir in Teil 1 (S. 4) gesehen haben, eh abgelehnt wird. Mir scheint es aber legitim, vielleicht gar erforderlich, ihre Wirkung auf einzelne Menschen wie auch auf gesellschaft-liche Prozesse zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen.

 

Ein weiteres Beispiel:

 

Niemand stirbt, ohne sich dafür entschieden zu haben. (Realität, 51)

 

Armut, Krankheit oder Tod - selbst einem US-Mittelklasseangehörigen, für den Seth möglicherweise in erster Linie schreibt, mögen seine Äußerungen in ihrer Absolutheit fragwürdig erscheinen. Ob sich der durch Nahrungsmittelspekulation von einer 300-prozentigen Preiserhöhung Betroffene in Somalia für den Tod durch Verhungern entscheidet, werden wir Normalsterblichen allerdings kaum feststellen können.

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Was sich für uns als Theorie darstellt - nämlich die Summe von Seths Aussagen in Jane Roberts Buch Die Natur der Persönlichen Realität - sind aus Seths1 Sicht schlicht Fakten. Er weiß um diese Dinge. Daraus, so vermute ich, erhellt, dass er sie in dieser entschiedenen Form präsentiert.

 

Dennoch wäre es für jemanden, dessen Ziel darin besteht „jedem von euch seine persönlichen Probleme lösen zu helfen (Realität, 2) möglicherweise interessant zu beachten, ob seine Aussagen nicht - entgegen seinen Intentionen - dazu beitragen, gerade die Verhältnisse zu stabilisieren, die etliche der zu lösenden Probleme überhaupt erst hervorrufen.

 

Statt also die Verantwortung für Schwierigkeiten eindeutig und einzig dem Betroffenen zuzu-sprechen, wäre es m.E. eine denkbare Option, nach den Ursachen zu fragen und zu prüfen, ob vielleicht die krankmachenden Verhältnisse änderbar sind. So nimmt z.B. die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Krankheiten seit Jahren zu2. Für viele Beschwerden sind Stress, Überbelastung und Leistungsdruck ursächlich - Dinge, die im Berufssleben durch Arbeitsverdichtung, ständige Verfügbarkeit, Verschwimmen der Grenze von Arbeits- und Privatleben, Konkurrenzdruck, lange Arbeitszeiten3, ... hervorgerufen werden.

 

Dem Arbeitgeber wird es vorteilhaft erscheinen, wenn sein Angestellter alleine daheim an seinen persönlichen Glaubenssätzen feilt, statt sich mit Kollegen, Betriebsrat und Gewerkschaft abzu-sprechen und entsprechende Forderungen zu formulieren - oder gar auf politischem Wege für Gesetzesänderungen einzutreten.

 

Selbstverständlich schließen sich diese Dinge nicht aus - dass Seth allerdings die gesellschaftliche Dimension persönlicher Probleme gänzlich ausblendet, scheint mir eine Schwäche seines Konzepts zu sein und - auch wenn nicht gewollt - die neoliberale Sichtweise zu stützen, womit er sich zugleich einen Teil der Verantwortung durch die mittels dieser Sichtweise verursachten Probleme zurechnen lassen muss.

 

Um fair zu sein, will ich bei meiner Kritik in Rechnung stellen, dass Jane Roberts Buch bereits 1974 veröffentlich wurde. Da steckte der politische Neoliberalismus noch in den Anfängen. Andererseits existiert laut Seth Zeit „nicht wirklich als eine Aneinanderreihung von Augenblicken“. Sondern: „Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existieren in einem Jetzt“. (Phänomen, 176)

 

Von daher sollte das Erscheinungsjahr des Buchs ohne Bedeutung sein.

 

 

 

_____

1 Siehe Kapitel „1.2.1 Wer ist Seth?“ in Teil 1, S. 4

2 „Zum Beispiel, weil immer mehr Beschäftigte über ihre Arbeitszeit hinaus per Mail, SMS oder Telefon verfügbar zu sein haben. (...) Dazu

   kommen Job-Unsicherheit, Ärger über Vorgesetzte oder Kollegen, schlechte Bezahlung. Und vor allem: Arbeitsverdichtung. (...)

   Demnach fühlen sich neun von zehn Arbeitnehmern gestresst – und jeder zweite hat das Gefühl, kurz vor einem Burnout zu stehen.

   (...) Als Gründe wurden am häufigsten ständiger Termindruck (34Prozent), emotionaler Stress durch Kunden oder Patienten (30

   Prozent), Überstunden und schlechtes Arbeitsklima (je 29 Prozent) genannt. Ständige Erreichbarkeit setzt jeden Vierten unter Stress.

   (...)“ https://www.tagesspiegel.de/politik/psychische-erkrankungen-alles-zu-viel/23811316.html

3 „Im Jahr 2019 machten die Arbeitnehmer in Deutschland rund 969 Millionen bezahlte und ca. 957 Millionen unbezahlte Überstunden.“

   https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76945/umfrage/ueberstunden-der-arbeitnehmer-in-deutschland-seit-2000/

 

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2.5 Im Reparaturbetrieb des Kapitals

 

Ich habe weiter oben bedauert, dass der Neoliberalismus zur Vereinzelung der Menschen führt, was u.a. solidarisches Handeln unmöglich macht oder zumindest gravierend erschwert.

 

Auch vor diesem Hintergrund scheint mir folgende Passage aus einem Brief Seths an einen „Freund“ bedenklich:

 

Energien dieser Art stehen immer bereit, auch wenn Du nicht an mich schreibst. Du kannst jederzeit über sie verfügen. Wenn Du mir Vertrauen schenkst, dann mußt Du einsehen, daß andere bestenfalls den Zwischenträger oder Mittler zu spielen vermögen und als solche eigentlich entbehrlich sind, da Du ja selber jederzeit über diese Energie verfügen kannst.(Realität, 55) (fett von mir, Klaus)

 

Diese anderen, von denen Seth hier spricht, sind Freunde, Vertrauenspersonen oder Ärzte, Psychologen oder Medien.

 

Seths Botschaft an den Briefempfänger:

 

... alle Selbsterkenntnis, alles Wissen um Deine Probleme und Lebensaufgaben, das Du benötigst, ist in Dir selbst zu finden.“ (ebd.) (fett von mir, Klaus)

 

Für Seths Freund sind andere Menschen also entbehrlich! Damit ist er die perfekte neoliberale Entität. Dies umso mehr, als er sich (wie alle anderen) nicht nur selbst motivieren, selbst controllen, selbst optimieren, sondern mit dem Wissen aus Jane Roberts Buch zusätzlich noch selbst reparieren kann!

 

Der ideale Angestellte mit einem Jahresabo für den Titel Mitarbeiter des Monats. Jeder Arbeitgeber sollte Seths Werk seinen Beschäftigten zur geflissentlichen Lektüre anempfehlen. Krankmachende Arbeitsbedingungen stellen fortan kein Problem mehr dar. Im Interesse des Shareholde Value lässt sich an den Ausgaben für das betriebliche Gesundheitsmanagement sparen.

 

Sorry, wenn das polemisch klingt. So etwas rutscht mir als ehemaligem Gewerkschafter einfach raus. Es ist wirklich nicht böse gemeint, verweist aber auf ein reales Problem - das allerdings nicht Seth alleine, sondern alle Therapeuten betrifft: Sie stellen praktisch eine Art Reparaturbetrieb des Kapitals dar. Das kann auch gar nicht anders sein - wollen (und müssen!) sie doch marktgerecht funktionieren (und natürlich den Menschen bei der Beseitigung ihrer Probleme helfen).

 

Ich bin mir nicht sicher, ob ich von Seth vielleicht etwas mehr verlangen möchte. Wenn er unge-rechte oder menschenunwürdige Verhältnisse als solche erkennt - wäre es da nicht angezeigt, in seine Ratschläge den einen oder anderen Hinweis auf gemeinsames Handeln einzufügen? Die Menschen auf Kooperation statt Egoismus, auf emanzipatorische Ansätze zu orientieren? OK, möglicherweise ist das zu viel verlangt. Aber wer weiß, vielleicht nimmt er ja meine Anregung auf?!

 

Andererseits: Wegen der Gleichzeitigkeit allen Geschehens und allen Seins (s.o. S. 16 unten) hätte Seth bereits 1974 von meiner heutigen Anregung Kenntnis nehmen können. Dass Jane Roberts Buch in der vorliegenden Fassung erschienen ist, könnte ein starkes Indiz dafür sein, dass Seth meinem Ansatz nicht Folge zu leisten gewillt ist.

 

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2.6 Meller Philosophen verändern die Welt![?]

 

Ihr schafft eure eigene Realität!

 

Wenn dem tatsächlich so ist - was hindert uns daran, zunächst nur einige Wenige, zum Beispiel die Meller Philosophenrunde, an einer Realität1 zu arbeiten, die ein klein wenig kollegialer, solidarischer ist? Nicht nur jeder für sich zu Hause, sondern bei unseren Treffen. Der Glaubenssatz heißt:

 

Unsere Realität soll etwas solidarischer werden!

 

Vielleicht könnten wir uns auch darauf einigen, einmal an jedem Tag zu einer bestimmten Zeit jeder für sich (und doch gemeinsam!) mit diesem Glaubenssatz zu arbeiten.

 

Statt also wie beim Wetter2 unbewusst an einem chaotischen Prozess mitzuwirken, nehmen wir uns in diesem Fall ein gemeinsames Projekt vor: eine geplante und koordinierte Aktion mit klar defi-niertem Ziel.

 

Chris lässt seine Kontakte spielen und versucht, weitere Leute ins Boot zu holen. Klemens vielleicht? Der kennt wieder haufenweise andere Leute, die dafür vielleicht offen sind.

 

Als mittelfristiges Zwischenziel könnten wir uns etwa auf eine Realität einigen, in der

 

die Gesellschaft einen Markt hat, statt ein Markt zu sein.

 

Und danach schauen wir dann mal weiter.

 

Sollte so etwas gelingen, würden wir nachträglich auch Karl Marx ganz sicher eine große Freude bereiten, der seinerzeit also sprach:

 

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu

verändern.“3

 

Ja, und bei diesem Vorhaben wäre es ganz gewiss hilfreich, wenn Seth eine solche Perspektive ebenfalls vermitteln würde. Dann könnte alles viel schneller gehen.

 

 

 

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1 Siehe meine Definition von Realität in Kapitel 1.3 Ist Seths knackiger Slogan irreführend? S. 5:
   Realität ist die Gesamtheit der natürlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Sachverhalte, Tatsachen, Umstände, ..."

2 ebd.

3 These 11 in: http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm

 

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2.7 Seth - ein Sympathisant des Neoliberalismus?

 

Um es kurz zu machen: Die Antwort auf diese Frage lautet aus meiner Sicht: NEIN. Es gibt nach meinem bisherigen Informationsstand keinen Anlass für mich anzunehmen, dass Seth mit dem Neoliberalismus sympathisiert. Insofern war die Fragestellung von Anfang an ein wenig provokant. [Mein PR-Berater und mein Sales-Manager haben mir dazu geraten :-).]

 

Wenn er sich des neoliberalen Sprachgebrauchs bedient, so tut er dies nicht, um damit eine Politik zu rechtfertigen, die im Abbau sozialer und demokratischer Rechte besteht. Er glaubt an das, was er sagt (aus seiner Sicht: er weiß es). Er will den Menschen bei der Lösung ihrer persönlichen Probleme helfen.

 

Das ändert allerdings nichts daran, dass sich alleine durch seine Ausdrucksweise Schnittmengen

mit der neoliberalen Ideologie ergeben. Und da zumindest sein Buch Die Natur der persönlichen Realität keinerlei die Verantwortung des Einzelnen für sein Schicksal relativierende Äußerungen enthält, stärkt er auf diese Weise objektiv - ganz unabhängig von seinen Intentionen - die neoliberale Denkweise und trägt dementsprechend zur Stabilisierung des Systems bei. Insofern dieses aber - so man meinen vorstehenden Ausführungen zuzustimmen vermag - den Markt verabsolutiert, dem seinerseits jede Menschlichkeit wesensfremd ist, produziert es massenhaft genau die Probleme, bei deren Lösung Seth den Betroffenen helfen will.

 

Dieses sein Vorhaben ist lobenswert und für jeden Einzelnen, dem er tatsächlich helfen kann, ohne Frage wichtig. Dass ich von Seth mehr erwarte, nämlich eine die neoliberal induzierte Vereinzelung tendenziell überwindende, auf Kooperation und solidarisches Handeln orientierende Herangehens-weise, ist mein Problem - aber auch das Problem der unter dieser Vereinzelung leidenden Menschen, die einen kompetenten Mitstreiter im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie gut brauchen könnten.

*** Schluss ***

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Klaus alias Tünn (Samstag, 17 Oktober 2020 13:01)

    Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass ein Anhänger von Seth sich zu meinen kritischen Anmerkungen äußert und wir vielleicht in einen kleinen Diskurs einsteigen können. Dies ist bisher nicht der Fall.

    OK, dann schreibe ich eben selbst den ersten (einzigen?) Kommentar.

    Zunächst:

    Ich habe mit Seths Verfahren einen Selbstversuch gestartet - und war erfolgreich. Der Anlass: Zahnschmerzen. Nun habe ich es früher auch schon erlebt, dass Zahnschmerzen von alleine wieder verschwanden, so dass der jetzige Effekt kein Beweis für die Wirksamkeit von Seths Methode ist. Mal sehen, ob und wann die Schmerzen wiederkommen. Motivierend finde ich das Ergebnis schon. Ich habe zwar nicht meine eigene Realität g e s c h a f f e n, sie aber ein klein wenig zum Positiven hin verändert.

    Da wir uns hier in der Rubrik PHILOSOPHISCHES befinden, sei der Hinweis erlaubt: Die PHILOSOPHIE DES GEISTES befasst sich u.a. mit dem Phänomen, dass mentale Ursachen (Empfindungen, Einstellungen, ...) physische Wirkungen haben können: Der Gedanke „Da steht ein kaltes Bier im Kühlschrank“ kann mich dazu veranlassen, zum Kühlschrank zu gehen. (Die Frage, ob Mentales geistig oder physisch sei, ist wesentlicher Bestandteil dieses spannenden Themas.) Dass der „Glaubenssatz“ „Mein Zahn wird schmerzfrei“ die Schmerzen tatsächlich verschwinden lässt, scheint (lt. Google-Suche) kein gängiges Beispiel in diesem Bereich der Philosophie zu sein.

    Hier kommt aber möglicherweise die EPIGENETIK ins Spiel (die eindeutig materielle Prozesse betrachtet). Sie erforscht, wie organismische und Umwelteinflüsse die Aktivität von Genen beeinflussen. Das heißt: Gene können aktiviert oder stummgeschaltet werden. Einflussfaktoren sind z.B. Ernährung, Stress, Umweltgifte, ... und vielleicht auch „Glaubenssätze“? Laut Seth („Der Körper ist eine lebendige Materialisation eurer Ideen.“) ist dies so.

    Die traditionelle Wissenschaft ist in Bezug auf die Möglichkeiten ihres neuen Forschungszweigs nicht einig. „Biologie-Professorin Leonie Ringrose ist Expertin für Epigenetik.“ Auf die Frage des TAGESSPIEGEL

    „Viele Artikel versprechen, dass wir unsere Gene durch unsere Lebensweise gezielt steuern und epigenetische Veränderungen sogar vererben können. Stimmt das?“

    antwortet sie vor 4 Jahren - am 25.10.16:

    „Nein, das ist absoluter Quatsch! Dieser Hype ging vor einigen Jahren los, als eine bekannte Zeitschrift einen Artikel darüber veröffentlicht hat, dass unsere Gene angeblich nicht unser Schicksal sind und unsere Lebensweise epigenetische Folgen für unsere Kinder hat. Danach haben viele Journalisten blind mitgezogen. Dieses Wunschdenken beruht nicht auf wissenschaftlichen Fakten. Die Forschung ist längst nicht so weit!“ [1]

    In „Planet Wissen“ vom 29.4.20 heißt es:

    „Grüner Tee und Gelée royale schalten gute Gene an“

    Andererseits sind viele Fragen wohl auch heute noch offen:

    „Wo zeigt sich noch, dass epigenetische Veränderungen vererbt werden? Wie genau funktionieren die epigenetischen Mechanismen im Detail? Welche Gene werden durch welche Lebensmittel und Lebensstile angeschaltet, welche ausgeschaltet? Und wie lässt sich das für Therapien von Krankheiten nutzen?

    Ob [die Wissenschaftler] valide Antworten auf diese Fragen finden werden, ist allerdings unklar.“ [2]

    Schade, möchte man meinen. Aber probieren kann man es ja trotzdem.

    _____
    1 https://www.tagesspiegel.de/wissen/humboldt-universitaet-zu-berlin-gene-durch-lebensweise-veraendern-das-ist-quatsch/14692024.html
    2 https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/epigenetik/index.html